Vor einiger
Zeit folgte ich der freundlichen Aufforderung: „Das Schauspielensemble reist
nach Troja, werden Sie Pate und reisen Sie mit!“ Dieses Schauspielensemble ist das meines
geliebten Theaters mit dem komischen Namen TPT, um welches wir im vergangenen
Jahr gekämpft haben und dessen Erhalt als Fünf-Sparten-Haus gelungen ist. Das
Haus hat zwei Standorte in Altenburg und Gera und müsste eigentlich unter ganz
besonderen Schutz gestellt werden. In Thüringen ist es das letzte Theater mit
allen Sparten. Es ist sozusagen die „Volluniversität“ unter den Theatern. Die knapp 300 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter leisten eine ganz tolle Arbeit. Nun war es gelungen, ein Projekt
durch die Bundeskulturstiftung fördern zu lassen. Im Ankündigungstext war zu
lesen:
„In der
Spielzeit 2013/2014 setzt das Schauspiel der Theater&Philharmonie Thüringen
seinen Antike-Zyklus mit der Tragödie Die Frauen von Troja des Euripides fort.
In diesem Werk behandelt Euripides das den trojanischen Frauen von den griechischen
Angreifern zugefügte Leid bei der Einnahme ihrer kriegszerstörten Stadt…Als
Warnung vor gewaltsamen, durch Fremdenfeindlichkeit und Selbstüberschätzung
ausgelösten Konflikten ist die Tragödie „Die Frauen von Troja“ grundsätzlich
ort- und zeitlos.
Gefördert
durch die Kulturstiftung des Bundes kommt die Produktion als eine
internationale Kooperation der TPT Theater&Philharmonie Thüringen mit dem
Tiyatro Medresesi Şirince (Türkei) und dem Samos Young Artists Festival
(Griechenland) auf die Bühne. Mit der gemeinsamen Arbeit von Angehörigen
unterschiedlicher Kulturen und Nationen setzt diese Zusammenarbeit ein Zeichen
gegen Ressentiments und für Völkerverständigung.“
Den Beginn
der Zusammenführung des Ensembles in dem kleinen Ort Şirince sollte ich
miterleben und begab mich aufgeregt auf die Reise. Am 11. September 2013 ging
der Flug von Leipzig über München nach Izmir.
Noch kannte
ich meine Mitreisenden nicht, doch Friederike Sinn erklärte mir schon am
Telefon, dass sie mich sicher an meinen auffällig roten Haaren erkennen würde
und dass ihr Mann Ulrich als Projektleiter am Flughafen in Izmir auf uns warten
würde. Mit dabei waren zudem die fantastische achtzigjährige Rosa Grimm aus
Würzburg und der ehemalige Kriminalkommissar Wolfgang Albert aus Gera. Was uns
vereinte war die unendliche Liebe zum Theater und das Gefühl, selbst etwas tun
zu müssen, damit Theater sein kann.
Aus dem
kühlen Deutschland kommend erfuhren wir beim Landeanflug auf Izmir nicht nur,
dass wir die griechische Insel Samos überflogen, sondern dass wir am Zielort
mit einer Temperatur von 32 °C zu rechnen haben, 20 Grad mehr als in
Deutschland.
Ulrich,
exakter gesagt, Prof. Ulrich Sinn empfing uns herzlich und hatte es trotz
einiger Schwierigkeiten geschafft, einen Mietwagen namens FIAT Doplo zu
ergattern, mit welchem wir an den
nächsten Tagen manchen mehr oder weniger abgelegenen Ort erreichen konnten.
Dass er dieses Auto mit nahezu leerem Tank übernommen hatte und froh darüber
war, dass er zunächst eine abschüssige Straße zu überwinden hatte, sei nur am
Rande erwähnt. Wir mussten uns sowieso daran gewöhnen, dass in diesem freundlichen
Landstrich die Uhren etwas anders ticken. Und nach kurzer Fahrzeit erklärten
wir Ulrich auch zum „griechischen Helden der türkischen Landschaft“, in der wir
eine knappe Woche verbringen wollten. Der Professor zeigte in unterschiedlichen
Lebenssituationen ein großartiges Organisationstalent und hatte offensichtlich
den Reiz von Land und Leuten vollständig für sich angenommen.
Şirince
empfing uns mit überwältigenden Blicken über das Land. Unser Hotel Nisanyan
House lag noch oberhalb der Ortschaft, bestand aus mehreren sorgsam
restaurierten griechischen Häusern, die durch Gärten und steile Wege
miteinander verbunden waren. Der Gastgeber Sevan Nisanyan ist ein
Schriftsteller armenischer Herkunft. Das ganze Anwesen zeigt die Liebe und
Sorgfalt, die er in sein Hotel gesteckt hat. Und nach dem üblichen
Begrüßungsritual wartete die nächste Überraschung auf mich. Wolfgang aus Gera
und ich wurden für die Zeit unseres Aufenthaltes zu „Hausbesitzern“ eines
zweistöckigen „Griechenhauses“ mit mehreren Zimmern, u.a. einem Kaminzimmer
innen und einem großzügigen Sitzbereich außen, mit Blicken auf die Ortschaft
aus einer die ganze obere Etage unfassenden Fensterfront und…einem gemeinsamen
„Sanitärensemble“. Ich kann feststellen: Wir haben uns gut verstanden und sind
heute noch miteinander in Beziehung…im sozialen Netzwerk. Unseren jeweiligen
Partnern haben wir schon viel über unser türkisches Zusammenleben erzählen
können.
Am Abend des
11. September gab es das erste Zusammentreffen der Paten mit den Schauspielern
im Tiyatro Medresesi. Die Künstler waren bereits zwei Tage vorher angereist,
hatten sich schon eingefunden in die Lebenswelt des Theaterzentrums und dabei
solch praktische Dinge geregelt wie die Unterkunft in den Schlafsälen, den
Zelten auf dem Dach oder den Küchendienst. Gegessen wurde gemeinsam und
fröhlich lärmend. Wir tasteten uns aufeinander zu, kannten natürlich unsere
Ostthüringer, hatten aber erst einmal große Probleme, Namen und Nationen aller
anderen zu behalten.
Seit Oktober
2011 wird das Gelände des Tiyatro
Medresesi von einer Gruppe Theaterenthusiasten genutzt, die sich hier ihren
Traum von Theater erfüllt. Das Theaterzentrum ist Gastgeber für internationale
Workshops. Es entstand aus der Überlegung, einen Ort der Inspiration zu finden,
welcher die Theaterarbeit beflügelt und an dem das gemeinsame Arbeiten und
Leben Wirklichkeit wird. Lange wurde Geld gesammelt, dafür war man in anderen
Jobs tätig. Das Grundstück an diesem bezaubernden Ort wurde erworben und ist
nach wie vor im Aufbau. Über dem Gelände des Theaterzentrums befindet sich ein
Mathematikzentrum, welches vom gleichen Architekten entworfen wurde und auf
seine Art nach dem gleichen Modell arbeitet.
Ich würde das
als „Lernen mit allen Sinnen“ bezeichnen und das an einem Ort, der große
Anspannung und Entspannung zulässt, der gemeinsames Arbeiten und Rückzug
gestattet, der offen ist und ohne Misstrauen und zur Gemeinsamkeit einlädt.
Fast
unwirklich schön widerspiegelte sich diese Atmosphäre am Begrüßungsabend, der
im kleinen Theaterbereich des Geländes stattfand. Es wurde nicht nur erzählt
von diesem Ort, sondern Musik und Tanz waren Teil der Kommunikation, die man
untereinander und mit den Paten aus Deutschland führte.
Celal
Mordeniz ist der türkische Leiter des Theaterzentrums, sein Assistent ist
Erdem. Celal ist vor kurzer Zeit Vater
geworden, sein kleine Mädchen ist überall dabei. Erdem übersetzte vom
Türkischen ins Englische, in die Sprache, die die meisten Teilnehmer des
Projektes recht gut verstehen.
Unser erster
Abend füllte das „Fass der Eindrücke“ fast zum Überlaufen. Man war schon so
weit weg von Deutschland und noch nicht einmal einen Tag auf türkischem Boden.
Durch die Nacht hallten die Geräusche der Dorftiere, der Hunde, Katzen,
Esel…Und um 5.45 Uhr rief der Muezzin mit beeindruckender melodischer Stimme.
In meinem
breiten Alkovenbett drehte ich mich noch einmal auf die Seite, um wenig später
zu neuen Taten aufzubrechen. Es sollte per Bus über 350 Kilometer nach Troja
gehen. Etwas verwundert bestaunte ich das Pferd vor der Gartentür meines
türkischen Domizils und stellte fest: Es war kein trojanisches Pferd. Eine Frau
bestieg das Tier und ritt den kleinen Weg zur Anhöhe über dem Dorf.
Auf der Reise
Die Busreise
sollte lange dauern, angekündigt waren sieben Stunden Hin- und eine ebenso
lange Rückfahrt. Mit an Bord war ein Filmteam, welches die Produktion der
„Frauen von Troja“ von ihrem Beginn an begleitet. Kristina und Pauline wechselten
ständig die Drehorte und haben offensichtlich unzählige Stunden an Filmmaterial
gesammelt, aus welchem demnächst die ersten Schnitte zu sehen sind.
Von Şirince
ging es also Richtung Troja und dabei durch die Millionenstadt Izmir,der drittgrößten
Stadt der Türkei, welche immer noch in die Vorstädte hineinzuwachsen scheint.
Zur
Mittagspause bekamen wir wieder einmal den Einblick in die andere
Herangehensweise an die alltäglichen Dinge, hier an die Bestellung des
Mittagessens für einen Bus voller hungriger Menschen, die sich dem Thema Troja
hingeben wollten. Erdem erwies sich nun nicht nur als Assistent für die
Organisation des Schauspielprojektes, sondern auch als Reiseleiter. Und ich
gestehe, ich wundere mich jetzt noch, dass nach dem Chaos bei Bestellung und
Bezahlung tatsächlich jede und jeder sein Essen bekam und das in durchaus
beachtlichem Tempo. Geschmeckt hat es hervorragend und zum ersten Mal prägten
sich bei mir die türkischen Worte für Danke: Teşekkürle und Bitte: Lütfen ein.
Ich musste trotzdem immer wieder nachfragen. Die Sprache fällt mir schwer.
Die lange
Reise nach Troja wurde unterhaltsam durch die unendlichen Gesangeseinlagen
unserer türkischen und griechischen Freunde. Und Quelgo und Rachelle aus
Burkina Faso ließen ihr afrikanisches Temperament einfließen. Hinsichtlich des
Umfangs an „Liedgut“ hatten es die Deutschen wesentlich schwerer.
Irgendwann
erklang aber der Kanon
„Hejo, spann
den Wagen an.
Sieh der Wind treibt Regen übers Land.
Holt die gold'nen Garben, holt die gold'nen Garben!“
Sieh der Wind treibt Regen übers Land.
Holt die gold'nen Garben, holt die gold'nen Garben!“
Und kurze Zeit
später sangen alle gemeinsam dieses einfache schöne Kinder- oder Volkslied über
den ausgehenden Sommer in deutscher Sprache. Wird der Kanon auch die „Frauen
von Troja“ begleiten? Wir dürfen gespannt sein.
Das Stück ist
noch im Entstehen und wir durften diese frühe Wachstumszeit begleiten.
Wie wird es
möglich sein, die Schauspielerinnen und Schauspieler aus den unterschiedlichen
Ländern mit ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen auf der Bühne zu
EINEM Stück zu vereinen, welches in Deutschland, in der Türkei und in
Griechenland spielbar ist und verstanden wird. Schon die Idee ist spannend und
während unserer gemeinsamen Tage spürten wir, dass das möglich ist. Das Thema
der Frauen von Troja ist zeitlos. Der Krieg zerstört und der Frieden ernährt,
ernährt Körper und Geist. Es mag pathetisch klingen, ist aber so.
Auf einer so
langen Busreise gab es auch Zeit für das Kennenlernen. Und mir war schon eine
große Frau mit dem mir so angenehm in den Ohren klingenden Schweizer Tonfall
aufgefallen. Marianne, die Malerin, lebt meist in Ulm. Als ich ihr erzählte,
dass ich einen Termin in Ulm auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben
habe, machten wir gleich eine gemeinsame Bekannte aus, die für die LINKEN zur
Bundestagswahl antrat. Eva-Maria Glathes Positionen zur Kultur und zur
Kulturpolitik sind meinen sehr ähnlich. Wir kennen uns eher „aus der Ferne“,
doch Marianne Hollenstein ist eben auch Bühnen- und Kostümbildnerin und
kennt Eva-Maria von den LINKEN aus
gemeinsamer Tätigkeit am Theater.
Es gibt doch
wirklich feine Zufälle. Marianne hat übrigens in unendlichem Fleiß zahllose
Kleidungsstücke für uns gestaltet, vom T-Shirt angefangen bis hin zu Kleidern
und Jacken. Und auf allen ist zu lesen: Die Frauen von Troja, Altenburg, Gera,
Istanbul, Şirince und Samos. Wir sind damit alle zu Werbeträgern für
internationale Zusammenarbeit geworden, die dem Frieden und der Verständigung
dient.
Doch zurück
zu unserer Reise. Um 16 Uhr wurden wir in Troja erwartet.
Ulrich Sinn
hatte im Begleittext zu unserer Reise schon geschrieben:
„Nichts
verstellt den Blick auf die Geschichte Trojas so sehr wie der Mythos von der
Vernichtung der Stadt durch einen griechischen Heereszug. Einen solchen Krieg
hat es niemals gegeben! Nirgendwo kann man die Entstehung des ›Mythos Troja‹
besser erläutern als im Angesicht der vielen Schichten des Burgbergs.“
So stand
unser Programm in Troja unter dem Motto „Mythos trifft Wirklichkeit“. Homer hat
als „Sammler“ berühmter Gesänge seiner Zeit diese an den „berühmten Ort“
gebunden. Der Mythos von Troja hat sich über die ganze Zeit gehalten und wer
kennt es nicht, dass trojanische Pferd, welchem dann die Krieger entsprangen.
Der Trojaner hat es bis in die heutige
Zeit geschafft und jeder Computernutzer wünscht sich nichts weniger als einen
Trojaner. Und nun steht zwar als Wahrzeichen ein großes Holzpferd in Troja,
doch die Wirklichkeit war ganz anders.
Troja war eine
Stadt, die Ausgrabungen zeigen mehrere Epochen städtischen Lebens und die
Einblicke in die Vergangenheit sind vielfältig. Aber der „berühmte Krieg“ fand gar nicht statt.
Beim Gespräch
im Halbrund des römischen Theaters in Troja benannte irgendjemand Christa Wolfs
„Kassandra“. Ich verwies darauf, dass es bei dieser Figur immer auch darum
ging, dass das Verschweigen und das Verbot der Wahrheit zum Erhalt von
Machtstrukturen dienen. Auch hier finden wir Mythos und Wirklichkeit.
Der Abend von
Troja endete am Meer in Canakkale. Wir Paten hatten unser internationales
Ensemble zum Essen eingeladen und wollten uns dafür bedanken, dass wir in so
kurzer Zeit so eng an ihre Arbeit herangelassen wurden. Die Arbeit der
Künstlerinnen und Künstler ist hart und lässt fast intime Einblicke zu. Wenn
das Stück auf der Bühne zu sehen ist, darf die Härte dieser Arbeit nicht mehr
zu sehen sein, die manchmal an die Grenze zur Erschöpfung führt. Theater als
Mittler zwischen Menschen und Kulturen spielt auf harten Brettern und kann so
viel erreichen. Ich wünschte mir, dass mancher „Vorurteiler“ das begreifen
möge, auch meine Kolleginnen und Kollegen in der Politik.
Der nächste
Tag führte uns nach Galipoli, dem türkischen Nationalmonument in Gedenken an
die Dardanellenschlacht. Mit der Fähre setzten wir zur Halbinsel Gollipoli über,
die 1915 der Schauplatz der gewaltigen Schlacht der Osmanen gegen die
Alliierten im 1. Weltkrieg war. Der Ort ist für die türkische Bevölkerung
Ausdruck ihres nationalen Selbstbewusstseins und gleichzeitig Stätte der
Trauer. Mustafa Kemal, der spätere Staatsgründer Kemal Atatürk, führte die Schlacht und die Halbinsel konnte
nicht eingenommen werden. Doch der Boden ist getränkt mit dem Blut unzähliger
Soldaten, für die es heute nach Nationen geordnete Ehrenfriedhöfe gibt. Auf einer
Tafel wird darauf hingewiesen, dass all die toten Soldaten „unsere Söhne“ sind,
die nun in einem freundlichen Land
begraben liegen.
Man erzählte
uns, dass die türkische Nationalflagge aus dem Bild entstand, dass sich im Blut
der Toten Mond und Sterne widerspiegelte. Im Gespräch wurde die Parallele zu
einem Lied deutlich, welche die
griechische Schauspielerin Daphne Ioakimidou-Pataki sang. Es stammt aus dem
Dorf ihrer Großmutter und in der ersten Strophe heißt es, dass sich die Sterne
in den Augen des toten Soldaten spiegeln. In der zweiten Strophe wird deutlich,
dass zwei Menschen sich nicht lieben dürfen, wenn sie als Griechin einen Türken
begehrt. Das Lied begleitete uns in den nächsten Tagen in Workshops im
Theaterzentrum und Daphnes Stimme ließ Gänsehaut aufkommen.
Unser
Schauspieldirektor und Regisseur der „Frauen von Troja“ Bernhard Stengele
erklärte als überzeugter Pazifist, wie schwer unter konkreten Bedingungen die Entscheidung
fallen kann, keine Waffe in die Hand zu nehmen. Viele Fragen wurden
aufgeworfen. Wir debattierten über Nationalbewusstsein, Fahnen und mir ging
Sillys Lied „Wie lieb’ ich dies Land“ nicht aus dem Kopf. Wieder war die Frage
da nach dem Bezug zur eigenen Heimat, nach dem, wofür ich sie liebe und was an
ihr verwerflich ist.
Am Mittag
verließ uns das kleine Filmteam und wir reisten zurück nach Şirince, sieben
Stunden sollte auch diese Busfahrt dauern.
Aus Troja
zurück
Der nächste
Tag war ein Samstag. Im Haupthaus des Hotels gab es kein Frühstück, wir sollten
den Berg hinaufsteigen, um im Cottage am Turm zu essen. Zunächst ahnungslos
wohin es uns treiben sollte, stiegen wir in einem fast paradiesischen Garten
die Höhe hinan, um mit einem Frühstücksplatz belohnt zu werden, den man sich
schöner nicht denken kann. Dass zwei Pfauen mit insgesamt fünf Schwanzfedern
den Platz betraten, sei nur am Rande erwähnt.
Der ganze Tag
war der Ortschaft Şirince, dem Theaterzentrum sowie der Beobachtung und
Teilnahme an den Workshops gewidmet. Zum ersten Mal hatten wir etwas Zeit, uns
durch die Gassen des wunderschönen Ortes treiben zu lassen, die reifen Früchte
an den Granatapfel- und Feigenbäumen nicht nur zu fotografieren, in kleinen
Lokalen regionale Spezialitäten zu kosten und das eine oder andere Mitbringsel
zu erhandeln. Da es mit meinem Orientierungssinn wahrhaft nicht zum Besten
bestellt ist, hatte ich zahlreiche Begegnungen mit Menschen, um sie nach dem
Weg zu fragen. Trotz aller Sprachschwierigkeiten gelang es, den richtigen Weg
durch kleine Gässchen vorbei an Ziegenställen, vor dem Haus sitzenden älteren
Damen und streunenden Katzen und Hunden zu finden. Als ich am Abend an manchem
Häuschen wieder vorbeikam, grüßten wir uns wie alte Bekannte. Kurz vor dem
letzten Workshop des Tages erkundete ich mit Mechthild Scobranita und Wolfgang
noch einmal das Mathematikzentrum über dem Tiyatro Medresesi. Im Gespräch mit
den Mathematikern luden wir einfach ein, uns zu besuchen, um bei der
unterschiedlichen Arbeit „über die Schulter zu schauen“.
Der Sonntag
sollte uns nach Ephesos führen. Unser „griechischer Held der türkischen
Landstraße“ Ulrich stellte wieder seine universelle Einsatzfähigkeit unter
Beweis. Zunächst trafen wir mit Herrn Schwaiger vom Archäologischen Institut
Österreichs zusammen, der seit zehn Jahren in Ephesos arbeitet und uns nicht
nur die neusten Grabungen zeigte, sondern auch noch zum exklusiven Reiseführer
wurde. Fachkundig und charmant zeigte er uns die Wohnhäuser und prächtigen
öffentlichen Bauten einschließlich des imposanten Artemis-Tempels. Die
zweitgrößte Stadt des Orients unter römischer Kaiserzeit lässt auch heute noch
staunen. Die Besucherzahl soll auf die 2-Millionen-Grenze zugehen, die
„Bewirtschaftung“ ist inzwischen an eine private Firma gegeben worden, deren
Mitarbeiter uns misstrauisch wegen unserer „Sonderführung“ beäugten und
mehrfach nachfragten, ob wir denn auch Eintrittskarten hätten. So erreichte uns
der Privatisierungsdrang öffentlicher Einrichtungen auch im antiken Ephesos.
Und trotzdem war es großartig und natürlich versammelte sich unsere kleine
Gruppe im antiken Theaterrund, welches einstmals 25 bis 30 Tausend Menschen
Platz bot. Leider konnten uns unsere Schauspieler nicht begleiten, die Zeit war
zu kurz, auch dieses Erlebnis in ihr Programm einzubauen. Ein bisschen Bedauern
war da schon.
Bewundernswert
war übrigens das Durchhaltevermögen der achtzigjährigen Rosa, die alle
Anstrengungen durch Hitze und Weg durchhielt und sich wunderte, wenn wir sie
fragten, ob sie lieber eine Pause im Schatten haben möchte.
Am Abend
unseres vorletzten Tages besuchten wir natürlich wie an jedem Tag „unser
Ensemble“. Inzwischen fassten wir unter diesem Begriff nicht mehr nur die Schauspielerinnen und Schauspieler
unseres Ostthüringer Theaters. Die große Gruppe aus Deutschland, Griechenland,
der Türkei und Burkina Faso war uns gleichermaßen an unser „Patenherz“
gewachsen. Im März werden alle zu uns kommen, um die gemeinsame Probearbeit für
die Premiere des Stücks am 4. Mai in Altenburg aufzunehmen. Als Freunde werden
wir Freunde empfangen können.
Doch der
Sonntagabend stand zunächst im Zeichen von Rhythmus und Musik. Ömer Avci, der
musikalische Leiter, ließ uns erleben,
wie die Musik für das Stück entsteht, die Rhythmen dramatische Spannung im
Gesang aufbauen, wie Gruppen und Einzelpersonen in Gesang und Rhythmus
miteinander agieren und wie die unterschiedlichen Sprachen durchaus im Stück
ihren Platz finden können. Wieder war da der Kanon „Hejo, spannt den Wagen an…“
und Daphnes griechisches Lied aus dem Dorf der Großmutter. Über allem wachte
der Regisseur Bernhard und ich will in diesem Text auch nicht zu viel Konkretes
verraten. Die Spannung für die „Frauen von Troja“ soll wachsen.
Und natürlich
muss erwähnt werden, dass Prof. Ulrich Sinn an diesem Abend wirklich seines
Lehramtes waltete und als wissenschaftlicher Berater des Projekts noch einmal
die Geschichte um Troja in das Licht des wirklichen Geschehens rückte. Endlich
hatte geklappt, dass zum Vortrag alle technischen Fragen gelöst waren.
Der letzte
Tag führte uns nach Didyma und Priene. In Didyma erwartete uns eine
Tempelanlage, die zu den besterhaltenen Monumentalbauten der Antike zählt. Bis
zu 25 Meter ragen die Mauern empor und gemeinsam mit Ulrich erzählten sie vom
Orakel des Apollon, welches wir natürlich alle ganz individuell befragten.
Priene gilt
als das „Pompeji Kleinasiens“. Die weitläufige Ruinenstätte am Hang eines
Berges, auf dessen Höhe sich die Fluchtburg befand, lässt geschäftiges Leben
einer Hafenstadt ahnen, von der uns der deutsche Grabungsleiter anschaulich
berichtete. Von der Anhöhe, auf der sich die Stadt Priene erstreckte, öffnete
sich ein weiter Blick bis zur griechischen Insel Samos. Unter uns erstreckte sich das Schwemmland,
welches einst als Meer unter der Stadt lag und auf welchem sich heute silberne
Baumwollfelder erstrecken.
Und wir
wussten, dass wir am Abend Abschied nehmen müssen, von dieser Landschaft und
von „unserem“ Ensemble.
Und im Tiyatro
Medresesi hatte man an diesem Tag nicht nur am Stück und an der Ausdruckskraft
der Schauspielerinnen und Schauspieler gearbeitet. Als wir nach endlos langer
Debatte im Hotel über die Art und Weise der Rechnungslegung und Bezahlung
unseres traumhaften Domizils leicht erschöpft ankamen, blickten wir auf die
gemeinsame Festtafel. Auf dem Grill wurde für jeden Teilnehmer eine Dorade
schmackhaft zubereitet, in der Küche wurden noch die letzten Tomaten und
Kräuter in die Salatschüsseln geschnippelt, auf einem Servierbrett stand der
berühmte Raki samt Eiswürfeln und Wasser bereit. Und dann gab es Umarmungen und
Fotos und Fotos und Umarmungen. Das Filmteam war aus Istanbul wieder angereist
und die beiden Frauen freuten sich auf das Wiedersehen. Am Vollmondhimmel zogen
Wolken auf, die sich in der Nacht noch zum Gewitter entladen sollten. Und im
Areal des Theaterzentrums nahmen wir zum Festmahl Platz. Noch beim Schreiben
dieser Zeilen überläuft mich ein leichter Glücksschauer.
Dass nach
diesem köstlichen Mahl noch gesungen und getanzt wurde, versteht sich
vielleicht von selbst, wenn man durch meine Zeilen einen kleinen Einblick in
diese knappe Septemberwoche bekommen hat. Ich saß noch lange mit Mechthild und
Marianne, mit Vanessa Rose und Manuel Kressin, rauchte und kicherte mit
„Prinzessin“ Rachelle Ouedraogo aus Burkina Faso, bekam von Erdem die
versprochene Liste aller Teilnehmer und kämpfte mich dann mit Wolfgangs Hilfe
zum Raki durch. Irgendwann gab es zu Ehren unserer Seniorin Rosa ein Ständchen.
Sie hatte sich „Let it be“ gewünscht und wollte gar nicht aufhören mit dem
Tanzen. Friederike Sinn stand eher still
an der Seite. Wir hatten während der Reisen viel über unser Aufwachsen und
Arbeiten in Ost und West erzählt. Wolfgang hatte neben Vanessa noch viele der
schönen Schauspielerinnen in sein Herz geschlossen und fachsimpelte mit
Bernhard schon einmal über die Besetzung der Rollen. Die Verabschiedung dauerte
fast eine Stunde und zog sich in den neuen Tag. Ein leichter Regen fiel und
Wind kam auf.
Ich hatte den
Eindruck, einen der schönsten Momente zu erleben und war unendlich glücklich
darüber, diese Zeit erlebt zu haben. Bis kurz vor der Abfahrt zum Flughafen saß
ich mit Wolfgang noch auf der kleinen Terrasse unseres Hauses. Wir waren beide
regelrecht aufgewühlt.
Die „Frauen
von Troja“ werden zeigen, wie sinnlos Kriege sind und dass sie unendliches Leid
bringen. Euripides lässt sein Stück enden: „Wie dumm sind die Menschen, dass
sie immer wieder Krieg führen, obwohl sie wissen, dass jeder Krieg für alle nur
Leid bringt.“
Wir haben in
einem kleinen Ausschnitt erlebt, wie schön der Frieden zwischen den Völkern
ist.
Teşekkürle!
Dankeschön!
Thank you!
Efcharisto!